Franz Tröger & Rolf Bernhard Essig: Der Keller auf dem Dach.

Franz Tröger, Salome Kammer und Rolf Bernhard Essig bei ihrem sehr unterhaltsamen Vortrag. Foto: Milena Wojhan
Franz Tröger, Salome Kammer und Rolf Bernhard Essig bei ihrem sehr unterhaltsamen Vortrag. Foto: Milena Wojhan

Vier kleine Erzählungen, drei Spieluhr-Musikstücke und einen Kanon verflochten Rolf-Bernhard Essig und Franz Tröger im Auftrag der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Sie bilden eine Art Korb, in welchem das „Archiv der Zukunft“ mit dem Geist des Ortes, an dem es steht, und mit den Menschen, die dort lebten und leben, zusammenkommt.

Der Bamberger Autor erzählt unter dem Gesamttitel "Der Keller auf dem Dach" von dem, was vor dem „Archiv der Zukunft“ dort war, was jetzt dort ist und vielleicht einmal sein wird. Die Titel der vier Geschichten weisen darauf hin, dass Heimliches, Unheimliches und Heiteres verbunden wird: 1. Vorzeit: Wie das Kommende kam und die Weissagung versagte. 2. Zwischenzeit: Altern in Form einer Birne und dass ein Kumpf ein Gefäß ist und nicht gern allein. 3. Fast-Gegenwart: Vom Graben und Fragen. 4. Fast-Zukunft: Der Keller auf dem Dach.

Essigs Duo-Partner, der Bamberger Komponist und Multiinstrumentalist Franz Tröger, stellte dazu Haus-Musik zusammen, welche die vier Geschichten bereichert und vertieft. Mit seiner Spieluhr und handgestanzten Lochkarten holt er alte Musik ins mechanisierte Heute. Da ist zuerst die dreieinhalb Jahrtausende alte Nikkal-Hymne (und damit das älteste Stück Musik, das wir haben), die gut 500 Jahre alte Motette „Nuper rosarum flores“ von Guillaume Dufay (geschrieben für die Einweihung eines anderen besonderen Gebäudes, des Doms in Florenz) und Trögers respektvoll freie De-Komposition Dufays. Schließlich komponierten und texteten die beiden noch einen Kanon fürs „Archiv der Zukunft“.

Der Keller auf dem Dach.
 Vier Texte, drei Spieluhrstücke und ein Kanon 


Rolf-Bernhard Essig (Texte), Franz Tröger (Musik)

1. Vorzeit: Wie das Kommende kam und die Weissagung versagte

Das Feuer brannte gut und rauchte die Mücken vom nahen Fluß fort. Grüne Zweige blakten, biegsame, fein verflochten zu einem Zelt in der Feuerstelle; für kleine Menschen noch zu klein, groß genug für seinen Zweck in der Nacht und mehr noch für den am Morgen.

In der kalten Asche lagen dann die Endstücke der Ruten mal hierhin, mal dorthin zeigend. Wer sehen konnte, sah darin und las heraus, was widerfahren würde, und hier war jemand, die lesen konnte. Sie legte die Hand in die handwarme Asche, formte eine Handkuhle mit dem Handrücken und sanftem Druck, wartete, ehe sie die Hand wieder zu sich nahm eine Liedweile lang, das Lied, das sie immer sang, wenn das Kommende zu ihr kommen sollte, das Locklied, liebevoll wie ein Einschlafgesumm für die kleinen Menschen.

Die saßen um sie herum, die großen auch, die alten, die jungen, die jagderfahrenen und fischfanggeschickten, die sammelklugen und die findeglücklichen. Alle saßen, erwarteten Warnung und Weisung, Weitblicke und Nahsicht in das große und das kleine Kommende; sie waren Teil des Lesens und Sehens.

Und jetzt stand sie auf in der Mitte der Menschen, sie, die genug gelesen hatte von dem Kommenden, drehte sich langsam um, sah alle an, sah einzeln jedes und jeden und jede, sah die Augen und die Ohren und die Münder und die Hände, die Arme, stand stille und fing an, die Asche in ein Gefäß zu füllen, die gut tat auf Wunden und Stechtiere abhielt, nahm ein Ruten-Endstück und zeichnete in den Lehm um die Feuerstelle Wellen. Sie hatte eine Schmelzzeit gesehen, bald kommend, mächtig und flutend im Fluß und steigend, steigend. Sie ritzte in den Lehm Linien, die sich kreuzten, über kleinen Menschen, und daß die gehen würden vor ihrer Zeit, sah sie und sahen alle, und dann zeichnete sie so viele Menschen und gekreuzte Linien, wie sie da saßen. Und alle erschraken, daß sie gehen würden vor ihrer Zeit.

Dann zeichnete sie immer neue Linien im Lehm um die Feuerstelle, der innen ganz hart geworden war, außen aber dem Druck des Zweiges empfänglich: ein Gewirr von Linien, in dem Menschen steckten wie in einem Rutengeschling. Dann fiel sie nach hinten, lag im Sand, den das Wasser von der vorigen Schmelzzeit dort angeschwemmt hatte, lag still für lange Zeit, und alle Menschen um sie waren still für lange Zeit.

Und als sie wieder da war, da waren alle da, nahmen aus der Feuerstelle die Endstücke der Ruten, kauten sie weich und klein und spien sie hinter sich. Und dann machten sie alles, was das Kommende kommen ließ und vorbeifließen vielleicht. Sie nahmen Speere, Steinhämmer, Gefäße, immer die besten, und trugen sie zum Fluß, verneigten sich, und die Stärksten warfen sie weit hinein in das Wasser, wo sie versanken oder davonschwammen. Und sie verneigten sich wieder, gingen zurück zur Feuerstelle.

Sie nahmen die nächsten Tage viele Ruten von den Bäumen, flochten sie zu Gefäßen, um damit mehr Fisch zu fangen, den sie trocknen konnten für die leeren Tage, und andere, um die Vorräte zu lagern. Sie suchten sich höher zu lagern, als das Schmelzwasser den Sand hinaufgetragen hatte, und sie jagten mit neugeschnitzten Speeren und sammelten mit allem Eifer, was das Land umher nur hergab. Sie nahmen an einem Morgen vom Sand mit hinauf zum neuen Lager auf dem Fels und bliesen ihn von der flachen Hand hinab. In der lichten Sonne blitzten Körner im Fall. So ging es viele Monde.

Und als die Schmelzzeit kam, das Kommende mitbrachte, den Sand, das Wasser, da floß es vorüber mit langsamer Macht, stieg höher und höher, an das Lager der Menschen aber nicht, die auf dem lichten Fels höhere Zelte gemacht hatten, bedeckt gegen den Regen, der mit dem Schmelzwasser kam.

In einer letzten, langen Nacht kam das Schmelzwasser ganz nahe an die Menschen, die am Feuer saßen und nicht hinsahen, nur die eine, die sah und las, sah hin und wußte, was das Wasser sagte.

Am Morgen sank langsam, langsam das Wasser wieder. Die Menschen sahen es, und sie sahen, daß sie, die las und sah, nicht mehr da war. Sie verneigten sich und sahen lange in die Wasser. Eine stand da, zwei, drei Arme lang abseits, und sie las in den Strudeln und Wellen lange. Das sahen die anderen alle. Sie warteten.

Als das Wasser sich verlaufen hatte, Sand hinterlassen und anderes Schwemmgut, da sammelten alle grüne Zweige und bauten daraus ein Zelt in der Feuerstelle; für kleine Menschen noch zu klein, groß genug für seinen Zweck in der Nacht und mehr noch für den am Morgen und sie, die in der Asche las: Warnung und Weisung, Weitblicke und Nahsicht in das große und das kleine Kommende.

Übergangsmusik, hurritisch

2. Zwischenzeit: Altern in Form einer Birne und daß ein Kumpf ein Gefäß ist und nicht gern allein

Sommerbirnen vor dem Haus schwingen im Wind leis vor sich hin. Sie sieht die Musik darin.

„Wie klingen Birnen?“ fragte sie ihren Vorvater. Sie ließ ihr Lachen erklingen. Und er hörte ein wenig der Birnenmusik.

„Weißt du?“, fragte er.

„Ja“, sagte sie.

„Eine Birne vor dem Haus und eine im Haus ist ein Vermögen.“

„Ja“, sagte sie.

„Du kannst sie dörren“, sagte der Vorvater, „für die leere Zeit.“

„Ja“, sagte sie.

„Eine schöne Birne, reif und rotwangig, wird auch eine schöne hutzelige Birne im Birnenofen“, sagte der Vorvater.

„Ja“, sagte sie und dachte an ihre Vormutter, bergend, weise und trockenbirnenhutzelig, am meisten im Lachen, das sie ihr leicht entlocken konnte.

„Hat sie den Ofen gebaut?“, fragte sie ihren Vorvater.

„Nein, das war ihr Vorvater. Er sang beim Formen des Lehms, sagt sie. Und daß sie ihn hört, wenn sie den Ofen umfaßt vor dem Anfeuern, wenn sie die Formen nachformt, die Spuren von den Händen und dem Gesang des Vorvaters.“

Eine Birne fiel in den Sand unterm Baum weich und dumpf. Beide schauten einen Moment und warteten. Worauf? Sie erhob sich und hob die Birne auf, gab sie dem Vorvater, der sie prüfend drückte.

„Iß du sie, meine Zähne sind alt und wenige.“

Sie nahm die Birne und schaute die Farben an, die feinen Punkte, hielt sie nah vors Auge und lachte. Dann blies sie die Sandreste fort und schaute noch einmal, tiefer in die rotgrüne Schalenlandschaft und lachte wieder.

Der Vorvater lachte mit. Ihr Lachen steckte alle an, sogar sie selbst. Dann lachte sie sich fast atemlos, schnappte Luft und grunzte dabei ferkelhaft und lachte darüber wieder. Sie biß in die Birne und sah den Tropfen von ihren Lippen im Sand zu. Bald würde sie mit etwas Glück lesen lernen.

Ein Kuckuck rief in der Ferne, nah ratschten die Stare vom baldigen Fortfliegen. Der Vorvater wischte mit seinem Ärmel ihren Mund, den sie ihm hinhielt wie später zum Kuß einem Mann, wenn sie älter wäre. Dann langte er in seine Tasche, die er am Riemen über dem Gewand trug, und reichte ihr mit leichter Hand etwas hin. Was es war? Er hielt die Hand geschlossen und bat:

„Schließ deine Augen und schau.“

Sie nahm, beide Augen geschlossen, das kleine Ewas und fühlte vier Spitzen unten, wenn es denn unten war. Sie fühlte ein Loch auf halbem Weg hinauf, glatte Oberfläche, eine Kerbe oder Wölbung. Zwei Köpfe? Ja, zwei Köpfe, und da war also oben und unten die spitzigen Beine, in der Mitte der Leib. Aber zwei Köpfe? Sie fühlte zu ihnen hin, fuhr ihre Form nach.

„Ein Pferd und ein Pferd – wie eine Doppelbirne zusammengewachsen.“

„Du darfst schauen“, sagte der Vorvater.

„Wie schön, wie fein“, rief sie.

„Das gehört dir, weil heut dein Namenstag ist.“

„Oh, ist schon Margarethentag? Danke, ich danke dir!“

Margarethe halste den Vorvater mit Bedacht.

„Vor siebzig Jahren schenkte mir mein Pate das Doppelpferdchen, aber auch er wußte nicht, wer es gemacht hat. Er sagte, es schaue voraus und zurück.“

„Aber“, sagte Margarethe, „es kommt nicht voran, der eine Leib will dahin, der andere dorthin.“

„Ich weiß nicht. Vielleicht will es nicht vorankommen. Vielleicht will es bleiben? Auf jeden Fall erst einmal bei dir.“

„Es ist heiß“, sagte Margarethe. „Laß uns in den Keller gehen und nach dem Eingemachten schauen.“

„Ja, aber naschen darfst du nicht, auch wenn dein Namenstag ist.“

„Es ist noch kaum etwas da“, sagte Margarethe. „Der Herbst wird dann viel Ernte bringen.“

„Meinst du?“

„Ich weiß es.“

„Na, woher willst du das denn wissen?“

„Mein Doppelpferdchen hat es mir gesagt“, sagte Margarethe. „Hörst du es?“

Und sie hielt das Tier an des Vorvaters Ohr.

„Oh, ein sprechendes Pferd mit Doppelmaul. Es sagt mir aber nichts, es kitzelt nur mein Ohr.“

„Im Keller drunten ist noch etwas, das mit mir spricht“, sagte Margarethe. „Der Kumpf.“

„Was weißt du vom Kumpf?“

„Ich meine, er schweigt oft. Er hebt nur manchmal an zu sagen, daß er da ist.“

„Von dem kannst du nichts wissen. Mein Vorvorvater sagte, es sei einer tief vergraben, lange vor seiner Zeit.“

„Er gleicht meinem Doppelpferd, der Doppelkumpf mit dem kleineren Kumpf umgestürzt auf dem großen Kumpf und darin …“, sagte Margarethe versonnen und beendete nicht, was sie sagen wollte.

Den Vorvater fröstelte es plötzlich in der Julisonne.

„Sprich nicht davon! Nicht hier! Nicht vor den Menschen! Laß uns gehen.“

Im Kellerdunkel faßte der Vorvater Margarethes Hand. Warm war seine Hand, trocken, rauh etwas, fest im Halten und als Halt.

„Vor langer Zeit bauten unsere Vorfahren ein Haus. Einen Keller gruben sie zuerst. Sorgsam, so sagte mein Vorvorvater, gaben sie der Erde das Doppelgefäß. Was darin war, wußte niemand zu sagen. Weißt du es?“

„Nein, nein“, sagte Margarethe, „Es ist still darin. Still, ganz still, bis es zu mir spricht.“

Dann schwiegen beide still und hörten Tropfen fallen in eine Lache.

„Du bist ein gutes Kind, Margarethe“, sagte der Vorvater. „Aber die Leute fürchten das Ungewisse wie das Kommende. Noch mehr fürchten sie, wenn andere davon sprechen, daß sie es wissen, obwohl die Menschen selbst es gern wüßten. Sprich nur mit mir von dem, was dir der Kumpf sagt und sein Kumpfgesell!“

„Ja, das will ich gern halten“, sagte Margarethe. „Es ist ja wohl nichts zwischen den Kumpfen.“

Und nach einer kleinen Weile Schweigen sagte Margarethe feierlich:

„Im Kumpf die Leere ist mir eine Lehre …“

Und keinen Kellertropfen später fing sie an zu lachen und zu grunzen und zu lachen – und Konrad, ihr Vorvater, der lachte auch.

Guillaume Dufay: Nuper rosarum flores

3. Fast-Gegenwart: Vom Graben und Fragen

Knochen und Kohle, Sturzbecher, Ösenhaken, Baukeramik, Stecknadeln, Spinnwirtel, Nägel, viele Nägel. Wo kommt die Erdnuß her?

„Die Fundtüten reichen nicht mehr“, dachte der Archäologe und dachte an die Wundertüten am Kletterbaum, die er in Kirchweih-Kindertagen nie erreicht hatte.

Schlüssel, Rohrfragmente, Zähne von Tieren, Stecknadeln, Schnallen, Glöckchen aus Buntmetall, Würfel und Messergriff, Pfeifenmundstück und Putz, Wetzstein und Muschelteile, Öllampenscherben, überhaupt Scherben, immer wieder Scherben. „Darauf reimt sich sterben“, dachte der Archäologe.

„Haben wir noch Fundtüten?“, fragte er die Archäologin?

„Sicher! Schockweise! Du hast Glück, ich wollte grad eine rauchen oben.“

Sie legte den Pinsel neben den Spatel und kletterte aus der Grube.

Als er sie zurückgekommen glaubte, griff er vertrauensvoll nach hinten, aber da war etwas Kühles. Als er sich umblickte, sah er eine Gestalt.

„Hans Hiltner“, sagte die. „Was macht Ihr hier?“

Der Archäologe schloß die Augen, wischte mit der Hand über sie und öffnete sie wieder. Die Gestalt war noch da. Und neben ihr stand eine weitere.

„Grabt nur weiter, mein Gemahl hat als Forstmeister viel gesehen. Meine Söhne kennt ihr? Jakob, Andreas, sagt Grüß Gott zu dem Herrn!“

Der Archäologe antwortete mechanisch auf den Gruß und setzte sich. Die Grube füllte sich mit Gestalten, immer mehr kamen heran, erschienen auch oben um ihren Rand.

„Heinz und Fritz Mayer, Forstmeister“, riefen zwei vom Grubenrand hinab.

Der Archäologe sah sich die Kleidung an und schätze sie auf 16. Jahrhundert.

„Gute Requisite!“, antwortete er den beiden. „Seid ihr alle in einem Verein?“

Verständnislos sahen sich Georg Göttlich und sein Schwager Hans Georg Beringer an.

„Da fragt Ihr am besten den Leonhard“ sagte Beringer, „Als Obergotteshauspfleger weiß er besser bescheid oder gleich den Hans Leonhard. He, Viertelmeister, sind wir in einem Verein?“

„Für dich immer noch Bürgermeister“, antwortete der. „In der Schützengilde sind wir immerhin. Was macht ihr anderen aber alle hier? Warum seid ihr so wunderlich gekleidet?“

Heinrich Röschlaub schaute an sich herab und konnte nichts Wunderliches finden. Dann memorierte er im Geiste seinen Schulmeisterplan.

Der Archäologe wußte nicht recht, ob er sich fürchten sollte. Die Dutzende da oben und in der Grube sahen ihn freundlich an, selbst erstaunt, das mindeste zu sagen, verwirrt einige, eingeschüchtert manche, neugierig aber auch.

„Wo ist das Haus?“, fragte Hans Niklas Förtsch mit aller Würde seiner Stellung als Stadt- und Amtsvogt.

„Ist es abgebrannt“, fragte der Riemer Hans Zillig, und Valentin Segnitz wiegte den Kopf dazu und den Leisten in seiner Hand.

„Wie 1709?“, fragte der Archäologe. „Nein, nein!“ Er stammelte ein wenig weiter, obwohl er nichts dafür konnte. „Es ist …, es mußte weichen. War alt. Neue Besitzer. Neue Ideen. Neue Planungen. Wir mußten es opfern.“

Der Archäologe dachte an Dippolds Einwände gegen den Abriß, die schärfsten von nicht wenigen gegen das, was seiner Arbeit folgen sollte. Eine Zeitungsseite erschien vor ihm, so daß er nur ablesen mußte:

„… in den letzten Wochen wurde das Gebäude Marktplatz 2 abgebrochen. Ein im Kern intaktes Gebäude, das für unser Stadtbild bedeutsam war, ist vom Erdboden verschwunden. Die von den Eigentümern beabsichtigte Nachfolgebebauung, die an anderer Stelle bereichernd sein könnte, ist für den Platz aus städtebaulicher wie denkmalpflegerischer Sicht ganz und gar ungeeignet und schafft einen schädlichen Präzedenzfall.“

Der Archäologe hielt sich da raus. Die Entscheidungen waren lange schon gefallen. Vor seinen Augen zeigte eine luftige Hand ohne Leib daran auf einen Leserbrief in der schwerelos schwebenden Zeitung vor ihm, ach ja, der Fischer Konrad mit seinem Faible für feine Formulierungen, den hatte er fast vergessen:

„Die High-Tech-Architekten allerorten sehnen sich nach neuen Herausforderungen für den 3D-Drucker“. , „heimattümpelnde Tradition“ und „totalverglaste Piazza-Futuristik“.

Nun, dachte der Archäologe, während sich die Zeitung vor ihm in Luft auflöste, wenn es ein Archiv der Zukunft werden sollte, war Futuristik doch geradezu unvermeidbar.

Nur bei den Metall-Weiden, die kommen sollten, zweifelte er etwas mit. Die sahen Trauerweiden ähnlicher als Silber- oder Korbweiden, die man fürs Flechten brauchte. Algorithmisches Wachstum, das klang allerdings vielversprechend. Vor allem blieb das ganze ein Geschenk an die Stadt, und einem geschenkten Gaul … Plötzlich fiel ihm ein Gegensatz aus „Asterix als Legionär“ ein: „Timeo Danaos, et dona ferentes“. Eine schöne Warnung vor dem geschenkten trojanischen Gaul. Nun, die Stadt hatte ohne Zweifel und mit genügend Zeit dem Geschenkpferd ins Maul und sonst wohin geschaut. Ein Geschenk für ihn und seine Firma war das Hausopfer schon jetzt und ohne Frage. Allein die Vertiefungen in die Vergangenheit, welche die vielen Funde ermöglichten, der Keller aus dem 13. Jahrhundert ans Licht zu bringen … die Lichtenfelser würden auch noch auf den Trichter kommen, bald vielleicht wirklich Architekturbegeisterte aus aller Welt, wenn der Entwurf so …

„Und jetzo kommt ein Gutshof wieder her?“, grätschte Hans Friedrich Weiß in den Gedankengang des Archäologen hinein.

Was sollte er sagen? Die Pläne veränderten sich nicht täglich, aber monatlich oft und zu Recht. Er schwieg lieber Herrn Weiß an.

Ein Hubschrauber kreiste knatternd über Lichtenfels. „Grabungsbesichtigung der Familie Hofmann?“, scherzte der Archäologe mit sich selbst, da sonst gerade keiner da war, der die Geldgeber kannte.

Da reichte ihm die Archäologin die Fundtüten in einem Korb.

„Nachschub“, sagte sie, „Und Hofmanns sind in Urlaub“, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und pinselte weiter, wo sie vorher den Sand fortgepinselt hatte.

„Siehst du nichts?“, fragte der Archäologe.

„Doch, natürlich, das sind die Vorbesitzer und Nachbarn der Steinernen Kemenate, vom abgerissenen Haus, der Bamberger Straße 1. Von der Kleidung her könnten das hier links die aus dem 18. Jahrhundert sein. He da, seid Ihr vielleicht Margareta Papst oder Vogel? Da gab es nämlich einige, sogar noch im 19., aber die seh ich gerade nicht, fast nur Männer. Die drängen sich gern vor. Christoph Molitor erkenne ich aber gleich, der sieht doch wie ein Wirt aus. Nicht einmal das Faß fehlt, das er als Bauch trägt.“

Der Archäologe lachte ungläubig.

„Dann sind die Wickleins vielleicht auch nicht weit“, sagte seine Kollegin, die mit ihrem Wissensschatz allein blieb.

„Hier, zur Stelle!“, rief es hinter ihnen. „Gestatten? Fritz Wicklein.“

„Barbara.“

„Henriette Wicklein.“

Ein Schimmer war um die Gestalten, der zu Goldarbeitern paßte.

„Woher kennst du die alle?“, fragte der Archäologe.

„Heinrich Meyer: Die Steinerne Kemenate in der inneren Bamberger Straße. In: Heimat-Blätter, 1960“, antwortete sie. „Ich hab mir eine Liste gemacht.“

Und dann rief sie laut: „Storch, Hans Georg?“ „Hier!“ „Dusold, Peter?“ „Auch da.“ „Büchs, Peter?“ „Hier!“

Der Archäologe hörte noch eine Weile zu, dann nahm er eine der Fundtüten aus dem Korb und legte mit routinierter Bewegung eine Münze hinein, die sich später als Prägung aus der Zeit Rudolfs II. erweisen sollte.

„Darf ich insistieren?“, fragte Friedrich Carl, und seine Witwe Katharina tat es ihm nach, den Sohn Joseph an der Hand: „Was ist das mit den neuen Ideen? Den Planen. Man ist ja keine Prophetin und liest es Euch von den Augen ab.“

Hinter der Fragenden fuhr, nein wandelte geradezu ein Mercedes 600 wie ein Phantom elegant vorüber, in dessen Fond eine freundliche Dame ihm huldvoll zuwinkte. Der Archäologe schwieg fast innig in Erinnerungen verstrickt.

„Kathi“, seufzte er wie damals als Kind.

Dann blickte er wieder auf seine Arbeit. Viele, viele Knochen waren vor ihm fast schon freigelegt.

„Wen wundert’s!“, sagten lachend Joseph Marr und Georg Zeder, Joseph Behringer, Johann und Christoph Endres. „Wir sind ja alle Metzger.“

Dabei winkten sie mit Fleischbeilen und Entbeinmessern, die in der Sonne blitzten.

„Habe ich laut gedacht“, fragte sich der Archäologe im Stillen.

„Hast du!“, antwortete die Archäologin laut und leutselig.

„Vielleicht täte Ihnen ein Bier gut?“, meinte Juliane Marr. „Mein Georg führt das Gasthaus zum Hirschen mit Geschick, träumt er auch immer von einem Geschäftshaus.“

„Ein Bier, keine üble Idee, sogar die beste seit langem“, dachte der Archäologe.

Die Menge um ihn beklatschte seine Gedanken. Er legte die Fundtüte in den Korb und bahnte sich einen Weg durch die Wesen in der Grube, die ihm aufmunternd den Rücken klopften, ihm Halt auf der Leiter gaben, sogar eine hilfreiche Hand unters Gesäß schoben, damit er leichter hinaufkäme. Durch die oben ging’s wie durch ein Spalier.

Das Bier aus dem Pritschenwagen erfrischte.

„Ein Hoch auf die moderne Technik!“, seufzte der Archäologe und tätschelte den kleinen, bauchigen Akku-Kühlschrank auf der Ladefläche. Nach dem zweiten Schluck spürte er Blicke in seinem Rücken.

„Stoffel ich!“, sagte er leis, und spürte ein hundertfältiges Nicken hinter sich. Wie konnte er von jetzt auf gleich so vergeßlich sein. „Du kannst dir nix von Zwelfe bis Mittoch merken.“ Seine Oma hatte Sprüch auf Lager, die ihn treu besuchten wie Schwalben ihre Nester.

Er drehte sich um und rief:

„Will noch jemand Bier?“

Alle Hände, nun, fast alle, gingen in die Höhe. Und der Archäologe fischte Flasche um Flasche aus dem Akku-Kühlschränkchen, reichte sie hinaus, wo um die Grube herum und in sie hinein eine Bierflaschenkette entstand. Bald waren es Dutzende Flaschen und noch Dutzende Biere folgten. Er reichte sie weiter, bis alle Bierwilligen versorgt waren. Da tippte ihn eine kleine Hand an.

„Na, für dich ist das noch nichts“, sagte er zu dem Mädchen.

„Es ist für meinen Vorvater, den Konrad. Ich bin die Margarethe“, sagte das Mädchen, machte einen Knicks und hielt ihm die Hand hin. Mit einer Flasche lief sie zum Vorvater, der verwundert den Verschluß ansah. Einen Arm weit von den beiden entfernt stand eine, die las und sah im Flaschen-Braun viel Kommendes.

„Hat jemand a Hebamm?“, fragte Kunigunda Bohnlein.

„Nicht die Bohne!“, antwortete Max Bohne, der schon wegen seines Rundfunkgeschäfts immer ein paar Werkzeuge in der Tasche hatte, und reichte den Kapselheber herum.

Dann hörte man hundertfach Zischen und munteres Glucksen und dann und wann den Pinsel der Archäologin in der Grube über Sandschichten streichen.

„Dienst ist Dienst“, dachte sie, „und Bier ist Bier.“

Der Schlüssel, den sie freilegte, gab ihr, wiewohl reichlich korrodiert, von Herzen Recht.

„Wo ein Schlüssel ist, da ist wohl auch ein Kästchen“, sagte sie.

Aber bis sie das gefunden und freigelegt hat, vielleicht gar geöffnet, müssen wir wohl oder übel noch warten. Die Geschichte ist aus, da läuft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe machen.

Franz Tröger: De-Komposition Dufays „Nuper rosarum flores“

4. Fast-Zukunft: Der Keller auf dem Dach

Als sie zum ersten Mal ein Haus durch den Dachboden betrat, erschien es ihr nur wie ein simpler Witz. Da spielte jemand schlicht „Verkehrte Welt“. Wieso der dafür ein so konventionelles Haus gewählt hatte? Nach kurzer Recherche fand sie viele weitere Beispiele, die man „verrückte Häuser“ nannte oder „Haus ‚Kopf über’“. In China gab es sie, in den USA, in Polen und in Deutschland natürlich auch.

„Wozu der ganze Aufwand“, fragte sie Sascha, die aber kaum zuhörte. Gut, für Kinder war das schon ein Spaß. Von drinnen hörte sie Lachen und Laute des Entzückens.

Wenig überraschend kam sie durch die Tür auf den Dachboden, vielmehr in den Dachboden auf einem schmalen Steg, der unter, nein über dem Dachfirst unter ihr verlief. Wäsche hing hier von der Leine, aber von unten nach oben, offenbar sehr gut gestärkt, wahrscheinlich mit einer Art Kunststoff getränkt. Ein Kribbeln im Nacken versuchte sie zu ignorieren, während sie Sascha ins Obergeschoß folgte. Andere Besucher machten fleißig Selfies, Sascha auch. Die Menschen hingen auf den Bildern an der Decke. Mit einfachem Umkehren der Fotos hätte das nicht funktioniert, allerdings mußte man die Fotos hier auch umdrehen, um den wahren Witz zu erzielen.

Die fast gutbürgerliche Einrichtung hatte den korrekten Platz, den sie sonst auch gehabt hätte, aber jetzt ragte eine Deckenlampe vom Boden, auf dem sie stand, neben ihr empor, so daß ihr Schirm sich auf Höhe ihrer Hüfte befand. Der Teppich über ihr an der Decke beziehungsweise dem Boden fiel nicht herunter, der Tisch, die Stühle über ihrem Kopf, die Regale und Schränke, das Beistelltischchen, alles war sicher fixiert, aber das Kribbeln im Nacken wurde zu einem leichten Schwindel, in den sich Ängstlichkeit mischte, ein Fluchttrieb, obwohl um sie herum die Besucher lachten, während sie Haltungen einnahmen, die auf den Fotos besonders überraschend aussehen sollten.

„Das kann man mit üblichen Programmen doch schon längst machen“, sagte ein indisch aussehender Mann, dessen Begleiterin den Hund mit dem Gesicht nach unten neben der Deckenlampe vollführte. „Aber hier macht es unglaublich viel Spaß.“ Dann sang er tänzelnd vor Freude: „What a feeling dancing on the ceiling.“ Und dann drehten beide, das Smartphone auf sich gerichtet, eine Walzerrunde an der Decke mit den Köpfen über den Möbeln. War er überhaupt Inder, sie in diesem Dirndl eine Bayerin? Und vor allem wo war Sascha?

Durch die Tür, deren umgekehrte Klinke nicht leicht zu bedienen war, ging es aus dem Wohn- in das Schlafzimmer. Ein Mann ließ Sand hinaufrieseln in ein Gefäß, das verdächtig einem Nachttopf von vor 200 Jahren ähnelte. Keine Sascha zu sehen, also schnell durch die Tür und die nächste Treppe genommen. Die war natürlich wie üblich angebracht, umgekehrt hätte man sie nicht benutzen können. Es ging in eine Art Arbeitszimmer hinauf, daran anschließend in einen Flur. Ihr wurde langsam schlecht bei der eiligen Durchquerung der Kopfüber-Einrichtung. Die Eingangstür am Flur-Ende ließ sich nicht öffnen, klar, sonst wäre man zum Dachgiebel hinunter gefallen, der sicher drei, vier Meter unter ihr lag.

Eine letzte Treppe, so hoffte sie, führte steil hinauf ins Licht. Endlich frische Luft! Oben stand sie auf der Bodenplatte des Hauses mit anderen Besuchern, und da lachte sie auch Sascha an, die einen Handstand versuchte. Sie selbst setzte sich auf den Betonboden und legte eine flache Hand darauf. Sie brauchte jetzt Halt. Die Übelkeit sollte sich endlich verdünnisieren.

Sascha kam zu ihr, strich tröstend über ihren Kopf und zeigte ihr dann ihre Fotos. Offensichtlich hatten andere Besucher ihr geholfen, denn es waren nicht nur Selfies. Sie sah ein Klo an der Decke, zu dem sich die Enkelin emporreckte, die Kammer mit Spinnweben und Besen, Schrubber, Eimer, Wischlappen.

„Das ist total witzig!“, sagte Sascha. „Schau mal, was ich für Kommentare habe, sogar aus England!“

„Wen kennst du den da?“

„Niemanden, aber das kann doch jeder sehen. Und ich hab ‚crazy house’ als Hashtag.“

Der Engländer, wenn es denn einer war, wurde gerade von weiteren Nachrichten nach unten gedrückt, aber sie tippte noch rechtzeitig auf seine Worte: „It reminds me of the nursery rime my Mom once sang to us.“ Darunter war ein Link, den sie automatisch antippte, obwohl Sascha ihr das Smartphone wegzunehmen versuchte. Eine Musik erklang und ein feiner Gesang:


High diddle diddle,
The cat and the fiddle,
The cow jump'd over the moon;
The little dog laugh'd
To see such craft,
And the dish ran away with the spoon.

Dazu sah man ein altes Bild mit der Katze an einem Kontrabaß statt einer Geige, der Kuh, die über den Mond sprang, den kleinen lachenden Hund und natürlich den Teller Hand in Hand mit dem Löffel.

Sie lachte erleichtert und fühlte sich viel wohler. Sascha postete noch ein paar Bilder. Vom Fundament des Hauses sah man das Meer in der Ferne. Ein paar Möwen saßen auf dem Geländer und warteten mit Erfolg auf Fütterung.

Das konnten sie eben nicht weglassen, dachte sie, obwohl ein umgedrehtes Haus oben kein Geländer hätte. Überhaupt, wo war der Keller? Den hätte sie wirklich gern gesehen. Keller waren unheimlich und unheimlich sprechend. Vielleicht war es statisch zu schwierig gewesen, noch ein Stockwerk draufzusetzen? Wie gern hätte sie selbst ein witziges Sammelsurium an Kellersachen zusammengestellt und hier oben umgekehrt verteilt! Sie schloß die Augen und richtete den Keller auf dem Dach ein. Dabei summte sie das englische Kuh-Mond-Lied vor sich hin. So schön einfach und lustig war es, perfekt für Kinder und für Erwachsene zugleich. Nach kurzer Suche fand sie es, dazu das Bild und weitere Illustrationen. Eine Coaching-Firma verwendete Lied und Bild unter dem Slogan „Thinking out of the box“.

„Schachteldenken“, fiel ihr ein. Wie nah sich die Sprachen oft waren! Während Sascha mit dem indisch-bayerischen Paar weitere Bildideen ausheckte, fand sie noch, daß „out of the box“ so ziemlich das Gegenteil bedeutete.

Zurück in Schwürbitz, gab es viel zu erzählen und noch mehr Bilder anzuschauen. Die vom Kopfüber-Haus gefielen am besten. Sie selbst fand sich auf einem Bild und wollte es am liebsten löschen lassen, aber dann bat sie ihre Enkelin doch darum, es ihr zu schicken.

Sie stand darauf neben einem Regal voll altertümlicher Gefäße, Architekturmodellen und antikem Spielzeug, das zum Boden hin ragte, und über sich hing neben dem Schreibtisch, von dem der Computer nicht herunterfiel, als heimlicher Gag für Kenner ein Baselitz. Sie selbst machte eine Miene, die ihre fränkische Freundin mal als „Wie ‘s Aachala, wenn’s blitzt“ beschrieben hatte. Sehr unschmeichelhaft verwirrt.

Sie druckte es aus und stellte es auf ihren Schreibtisch im Archiv der Zukunft als Sinnbild für produktive Verwirrung. Es erwies sich in den folgenden Wochen als perfektes Mittel, um Besucher kennenzulernen. Lockerer wurden alle, die es sahen, viele lachten, alle wollten wissen, wie es entstanden war und wo und was es hier sollte. Gab es einen besseren Einstieg?

Sie vergrößerte das Bild und nahm es mit, wenn Gruppen kamen. Ob es Kinder oder Erwachsene waren, Besucher aus der Stadt oder von fern, Workshopteilnehmer oder Architekturfans. Manchmal zeigte sie auch ein zweites, das Sascha von unten aufgenommen hatte. Da sah man sie auf der Bodenplatte des Hauses am Geländer, das umgedrehte Haus unter ihr. Dann fragte sie: „Was fällt hier auf?“ Viele rätselten herum, nicht wenigen fiel das falsche, aber notwendige Geländer auf, daß der Keller fehlte, nur den deutschen Besuchern. Ein Franzose sagte einmal: „Un boeuf.“ Er erklärte, daß er Musiker sei und das Stück „Der Ochs auf den Dach“ von Darius Milhaud sehr liebe. Das war ein großartiger Tip, fand sie nach dem Anhören des wildlustigen Stücks.

Kam jemand aus England ins Archiv, dann traute sie sich manchmal, das Kinderlied zu singen von der Kuh, die über den Mond sprang. Das kannten viele und freuten sich. „How did you know?“, sagten sie oft mit verklärtem Gesicht, das ihre Kindermienen wiederzuspiegeln schien. „I’m a prophet“, sagte sie dann. „And I see that you liked the song once when you were a child.“ Die Bilder, das Lied öffnete Besucherhirne und -herzen. Ebenso ein Kurzgedicht Markus Bundis:

„Schütze dein Gedächtnis / wende den Trichter / alles gehört zuerst auf den Kopf gestellt.“ Viel leichter war es danach, mit eigenen Worten zu erklären, was offiziell so formuliert war: „Das Archiv der Zukunft ist ein Raum für Veranstaltungen und digitale Ausstellungen. Es will über Innovationen informieren, Austausch und Initiative ermutigen, Lichtenfels vernetzen und Zukunftsfähigkeit fördern.“

In Tagen nach ihren Führungen belegten die aktuellen Klickzahlen auf der Homepage den schönen Erfolg, zumal sich die Menschen in allen Bereichen des elektronischen Angebots, besonders dem Archiv-Bereich gern und lang umschauten. Einzelne Anfragen erreichten sie und das Team, ob man ein „Archive of the Future“ auch in anderen Ländern und Städten einrichten dürfe. Nun, der Name war nicht geschützt, sollte wie die Idee selbst produktiv werden, und so gab man gern die Erlaubnis, bat nur darum, bei Zeiten über eine tatsächliche Umsetzung oder Eröffnung informiert zu werden und auf Lichtenfels zu verweisen. Bisher waren immerhin drei „Archive der Zukunft“ in Planung, in Surabaya, Dakar und Mantua. Ob es noch mehr würden? Es kostete, das sagte sie Interessenten vorsichtshalber, ein Vermögen an Geld, Gedanken und Zeit. Eine Lyrikliebhaberin schickte ihr eine Zeile Szymborskas: „Sage ich das Wort Zukunft ist sie mit der ersten Silbe schon vorbei.“

An einem Spätnachmittag Ende September hatte sich eine bunte Gruppe Besucher im Foyer des „Archivs“ versammelt, die nach Vorträgen auch noch Musik und Literatur hören wollte. Geduldige Leute offenbar. Sie ging vor die Tür und tippte leis an einen Metallweidenbaumzweig. Der gab den Impuls weiter an seine algorithmisch gewachsenen Brüder und Schwestern als Schwingen in die Weite. Das Schwingen spürte sie sehr angenehm, obwohl sie es nur sah. Sie dachte ans Singen, daß der Raum hinter ihr doch gut klingen müßte, wenn nicht nur sie, sondern alle sich trauten.

Da gab es einen Kanon fürs „Archiv der Zukunft“, der schon lange auf seine Premiere wartete. Den könnte man jetzt gemeinsam zu singen, denn er verflocht sich nach der ersten Einigkeitsversion wie Weidenkorbgeflecht zur Vielstimmigkeit, ein Wort- und Klanggewebe, dachte sie und trat zurück ins Archiv der Zukunft, wo sie die Zettel mit dem Kanon holte, sie verteilen ließ, um wirklich mit allen zu singen: ein kleines Loblied aufs Archiv der Zukunft. Damit der Gesang leichter ginge, sagte sie den Text einmal vor:

„Zwei goldne Weiden verzweigen sich weit. 
Drei Dimensionen, die vierte die Zeit. 
Glas, Geist, Beton: unser hohes Archiv. 
Drinnen der Brunnen der Zukunft ist tief.“

Dreistimmiger Kanon für das Archiv der Zukunft in Lichtenfels von Rolf-Bernhard Essig und Franz Tröger
Dreistimmiger Kanon für das Archiv der Zukunft in Lichtenfels von Rolf-Bernhard Essig und Franz Tröger